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Grenzgang zu Biedenkopf Titelseite, Originalscan aus dem Buch

Der Grenzgang zu
Biedenkopf

Ein altes historisches Volksfest, geschildert von Wilhelm Mauß

Symbolbild - Verschnörkelung, Originalscan aus dem Buch

Biedenkopf 1907.
Verlag von Max Stephani

Symbolbild - Verschnörkelung, Originalscan aus dem Buch

Freundlicher Leser! Wenn es dir Vergnügen macht, einmal unsere Volksseele in ihrer Ursprünglichkeit kennen zu lernen, so greife zum Stabe und wandere mit mir in’s hessische Bergland; ich will dir ein poesieumwobenes Volksfest zeigen, das in seiner Eigenartigkeit in unserem Vaterlande selten zu finden ist. Zufrieden wirst du gewiß wieder von dannen ziehen und für deine Mühen wirst du vollauf Belohnung finden.

Von Marburg, der alten Musenstadt, 30 Kilometer nordwestlich im sogen. Hinterlande liegt das preußische Kreisstädtchen Biedenkopf. Stoßen wir uns nicht an das Wort „Hinterland“. Der Name stammt aus darmhessischer Zeit und hat für unsere Tage keine Bedeutung mehr. Gewiß kommen wir in stille Täler, aber die Kultur hat auch diesen abgelegenen Gegenden ihren Stempel aufgedrückt wie auf andere Teile unseres Vaterlandes. Wir verlassen die Bahn Marburg–Creuzthal auf der Station Wilhelmshütte und wandern zu Fuß am Waldessaum entlang auf Biedenkopf los. Auf der Höhe beim neuen Schützenhaus machen wir Halt, denn vor uns liegt in entzückender malerischer Lage die Stadt. Umgeben von einer Reihe hoher Bergkuppen, steigt aus dem Lahntalkessel der Schloßberg steil empor. Die Spitze krönt das alte, aus dem 13. Jahrhundert stammende Schloß. An dem Schloßberg angeklebt wie ein Schwalbennest liegt die alte Stadt, während die neuen Stadtteile sich mehr in’s Tal hinstrecken. Wie ein Silberfaden schlängelt sich die Lahn vom Westen kommend an der Stadt vorbei, den eigenartigen Reiz der Lage noch erhöhend. Wir versenken uns eine Weile in den Anblick dieses schönen Fleckchens Erde, schreiten aber dann rüstig vorwärts auf unser Ziel los. Durch einen schattigen Laubweg am Altenberg entlang kommen wir über die Lahnbrücke zur Stadt. Unser Fuß betritt heute eine Stadt im festlichen Gewande.

Alle Häuser sind geschmückt mit frischem Tannengrün, Blumen und Laubwerk; Guirlanden, mit Inschriften geziert, ziehen sich an Straßenübergängen von Haus zu Haus und dazwischen wehen aus den Fenstern und von den Dächern Fahnen und Flaggen, um den Schmuck zu vervollständigen. Auf dem Marktplatze stehen Kopf an Kopf in festlichen Gewändern die Bürger in einzelnen Abteilungen um ihrer Fahnen geschaart und mit Führern an der Spitze. Hier und da tauchen in schmucker Kleidung Reiter auf, die die Vermutung aufdrängen, daß es obere Führer sind.

Da plötzlich stiebt die zuschauende Menge auseinander, ein Mohr, ein leibhaftiger Mohr, anzuschauen wie einst der kriegerische Othello von Venedig, erscheint und setzt alles in Bewegung; doch zum Nachdenken ist nicht viel Zeit, denn schon wird das Auge von Neuem wieder gefesselt. Zwei Leute in bunter auffallender Bekleidung jagen an uns unter lautem Peitschenknallen vorüber und verschwinden ebenso rasch wie sie gekommen, um anderwärts ebenso wieder aufzutauchen. Fragen wir nun erstaunt, was hier los ist, so erhalten wir die stolze Antwort: „Wir haben Grenzgang!“

Um den Grenzgang richtig zu verstehen, muß man echter Biedenköpfer und mit Lahnwasser getauft sein. Ein Fremder, und wenn er noch so lange Jahre in der Stadt weilt, wird niemals mit der Hingabe und innersten Begeisterung das unter obigem Namen bezeichnete Fest mitfeiern können. Wenn der Biedenköpfer den Namen nur hört, so schlägt ihm das Herz höher und er wird freudiger gestimmt, denn das seit Jahrhunderten gefeierte Grenzgangsfest ist ihm fast zu Fleisch und Blut geworden. Selbst die, welche die heimatliche Scholle längst verlassen und draußen im großen Vaterlande irgendwo weilen, oder drüben über dem atlantischen Wasser eine neue Heimat sich begründet und längst Sitten und Gebräuche der neuen Umgebung angenommen haben, werden von tiefem sehnsüchtigem Heimweh erfüllt, wenn sie aus der alten Heimat erfahren, daß wieder einmal ein Grenzgangsjahr gekommen ist. Wer es irgend möglich machen kann, scheut kein Opfer und keine Kosten, um dem Grenzgang, der die Jugenderinnerungen auffrischt und neue unauslöschliche Eindrücke zurückläßt, beizuwohnen.

Die Bedeutung des Festes liegt ja in dem Worte selbst. In gewissen Zeitabschnitten, gewöhnlich in der letzten Hälfte des August, jetzt alle sieben Jahre, früher alle neun Jahre und noch früher soll es gar jedes dritte Jahr gewesen sein, begeht die gesamte männliche Einwohnerschaft in organisierten Gruppen die Gemarkungsgrenze, um aufzuhauen, wo es notwendig ist, oder die primitiven Grenzzeichen zu ordnen, wo das Bedürfnis sich zeigt. In früheren Jahrhunderten, wo die Einrichtungen in Staat und Gemeinde noch in den Windeln lagen, war die öftere Grenzbegehung geradezu eine zwingende Notwendigkeit, denn die Linien zwischen Recht und Unrecht waren nicht allzuscharf gezogen und die Begriffe über Mein und Dein waren meist recht verworren. Mit dem Fortschreiten der Kultur und der Durchführung geregelter Gesetzgebung, besonders aber durch die in der zweiten Hälfte der vorigen Jahrhunderts von der hessischen Regierung vorgenommene Vermessung des Landes und die Setzung von Grenzsteinen verlor der Grenzgang seine ursprünglich praktische Bedeutung und entwickelte sich nach und nach zu dem, was er heute ist, zu einem Volksfeste im wahren Sinne des Wortes, wo nur noch symbolisch seine alte Notwendigkeit angedeutet wird.

Wie alt der Grenzgang ist, darüber gehen die Meinungen in der Bürgerschaft recht weit auseinander. Welche behaupten, er sei schon seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlich, andere wieder meinen, er sei im Anfang des 16. Jahrhunderts aufgekommen; etliche sind sogar der Ansicht, daß der Grenzgang nicht älter wie 150 Jahre sei. Letztere Meinung ist jedenfalls falsch, denn erstens war man vor 150 Jahren in kultureller Beziehung schon so weit vorgeschritten, daß man schwerlich zu einem solchen Mittel, um sein Eigentum zu wahren, Zuflucht zu nehmen brauchte, und zweitens sind uns in einer dankenswerten Abhandlung, welche im „Hinterländer Anzeiger“ erschien, Protokolle aus dem 17. und 18. Jahrhundert bekannt gegeben, worin der Grenzgang bereits ein altes Herkommen genannt wird. Auch die zweite Ansicht ist unwahrscheinlich und ist vielleicht irrtümlich entstanden durch eine vom verstorbenen Landgerichtsrat Bork in oben genanntem Blatte 1875 veröffentlichte Novelle. Dieselbe läßt er im Reformationszeitalter spielen und hat darin dem Grenzgang einen ganz besonderen Platz angewiesen. Da leider keine früheren Urkunden vorhanden sind, so ist ja das Streiten über diese Frage des Alters recht müßig, doch trifft man möglicherweise den Nagel auf den Kopf, wenn man die erstere Meinung als die wahrscheinlichere annimmt. Nach der Zeit, wo das große Kaisergeschlecht der Staufen im Kampfe gegen Papsttum und Partikularismus der deutschen Fürsten unterlegen war, herrschte in ganz Deutschland die wildeste Anarchie und das Faustrecht war der alleinige Regent. In dieser Not entstanden zum gegenseitigen Schutze überall Städtebündnisse und vor allen die später so berühmte und gefürchtete Hansa. Auch unsere Stadt wird in dieser Zeit genötigt gewesen sein, zur Selbsthilfe seine Zuflucht zu nehmen, um seine Grenzen gegen raublustige Nachbarn zu schützen. Es ist derhalben durchaus nicht phantastisch zu nennen, wenn man die Wiege des Grenzgangs in dieser „kaiserlosen und schrecklichen Zeit“ sucht.

In welcher Weise in früherer Zeit der Grenzgang vor sich ging, auch darüber ist das aufklärende Material recht dünn. Ueber manches Interessante gibt uns ja die erwähnte Abhandlung Aufschluß, aber sich ein ganzes abgeschlossenes Bild zu machen, ist leider nicht möglich. Von alten Biedenköpfern kann man ja über die Grenzgänge des letzten Jahrhunderts, wenigsten bis in die dreißiger Jahre hinein, erfahren; überrascht wird man da jedoch sein, zu hören, wie große Veränderungen mit denselben in der verhältnismäßig kurzen Zeit vor sich gegangen sind. Viele Gebräuche sind ganz verschwunden und andere werden nur noch angedeutet. So zum Beispiel sind noch 1857 die Burschen mit Kitteln angetan und mit Aexten bewaffnet, über die Grenze gezogen, um eigenhändig aufzuhauen. Heute wird dieser Brauch nur noch angedeutet durch zwei dem Zug vorausschreitende Sappeure. Auch blieb man früher den ganzen Tag draußen im Walde; die Frauen und Mädchen zogen dann am Mittag hinaus, um den Ihren Essen zu bringen und sich dann in Gottes freier Natur durch Tanz und Sang mit dem stärkeren Geschlechte zu amüsieren. Diese Sitte ist auch verschwunden und so dürfte es mit mancher anderen in früheren Zeiten ebenfalls gegangen sein.

Trotz der tief eingewurzelten Anhänglichkeit der Bevölkerung an den Grenzgang gab es doch nach 1872 eine Periode, wo man allgemein annahm, daß das Altehrwürdige ein Opfer des nivellierenden Zeitgeistes werden und in das Meer der Vergessenheit sich senken würde.

Da traten 1886 eine Anzahl von Bürgern zusammen mit dem Zwecke, den schon zu den Todten Gezählten wieder aufzuwecken, es bildete sich rasch ein Komitee und diesem gelang es unter rastlos energischem Handeln, die Grenzgangssache wieder in Fluß zu bringen. Was für Fragen zu lösen und was für Schwierigkeiten zu überwinden waren, ist noch in aller Erinnerung, aber ein glänzender Erfolg lohnte das Bemühen der Männer von damals. Nach dem Grenzgang 1886 bildete sich ein sogenannter „Grenzgangsverein“ mit dem Zwecke, das Interesse für das alte Fest bei den Bürgern wach zu halten und vor allem Gelder zu schaffen, welche die Feier des nächsten Grenzgangs erleichterten. Daß die Beteiligung eine rege war, bewies die stattliche Summe, welche im Laufe der Jahre zusammengebracht wurde. Dem Grenzgangsverein ist es wohl in erster Linie zu danken, daß das Interesse an dem Fest bis heute erhalten geblieben ist und die letzten Grenzgänge in alter Weise zu stande gekommen sind.

Und nun, aufmerksamer Leser, jetzt will ich einmal zu schildern versuchen, wie der Grenzgang in neuerer Zeit gefeiert wird und dann steige mit mir über die Grenze und du wirst in Wirklichkeit erleben, wie schön sich alles vollzieht.

Verweilen wir nun etwas länger bei den Vorbereitungen.

Das Komitee erläßt zunächst einen Aufruf zur Bildung von Burschenschaften. Die Burschenschaften sind die geschlossenen Vereinigungen der jungen, selbstverständlich unverheirateten Leute und bilden gewissermaßen die fest organisierte Masse im Fest. Meist entstehen selbe in den alten Burschenschaftslokalen, wo noch die Fahnen vorhanden sind und es nehmen gemeinhin die Uebriggebliebenen vom letzten Grenzgang die Sache in die Hand, um die Wiederaufrichtung der Burschenschaft zu erstreben und Burschen zum Beitritt zu werben. Aber auch neue erscheinen auf der Bildfläche mit ansehnlicher Mitgliederzahl, denn jede Burschenschaft ist bemüht, so stark wie möglich aufzutreten.

Die ersten Sitzungen werden meist ausgefüllt mit Wahlen; da muß der Rechner und Schriftführer gewählt werden, sowie auch der Fahnenträger und seine Begleiter. Hauptsächlich aber sind es die Führerwahlen, die am meisten Interesse erregen, denn es ist eine besondere Ehre, zum Führer gekürt zu werden. Auf je 20 Burschen ungefähr entfällt ein Führer, doch kann sich eine Burschenschaft auch mehr als die ihr zukommende Anzahl leisten, jedoch haben die Ueberzähligen keine Stimmen in den Führersitzungen.

Daß es bei der Anzahl von jungen Leuten größtenteils lustig und ausgelassen hergeht, ist wohl leicht begreiflich; wird es zu bunt, so greift der 1. Führer zu den Strafparagraphen und verdonnert den Störenfried zu einem Quantum Bier, denn wohlgemerkt, nur mit Bier wird bestraft. Treibt es jedoch ein Bursche zu stark, so kann ihm blühen, daß er vollständig ausgeschlossen wird und dann mag er während des Festes hinter dem Ofen sitzen; denn wer einmal von einer Burschenschaft ausgeschlossen ist, darf in keiner anderen wieder aufgenommen werden, es sei denn, daß der Burschenoberst Gnade für Recht ergehen läßt.

Sind die Führer überall gewählt, so ruft das Komitee selbe zu einer gemeinschaftlichen Sitzung zusammen, um den Burschenoberst, Burschenhauptmann und die beiden Wettläufer zu wählen. Der Burschenoberst ist die vornehmste Person der Burschen, er führt das Kommando über sämtliche Burschenschaften, leitet die Führer- und Reitersitzungen und hat das Recht, in jeder Versammlung zu erscheinen. Seinen, sowie auch den Anordnungen seines Vertreters, des Burschenhauptmanns, müssen überall Folge geleistet werden. Man kann sich leicht denken, daß beide Posten recht begehrenswert sind und es werden auch nur angesehene und respektable Leute hierzu ausgewählt. Uebrigens ist es durchaus nicht leicht, ohne Anstoß mit soviel jungem Blut fertig zu werden und derhalben müssen beide Genannte auch taktvolle Personen sein. Burschenoberst und Burschenhauptmann wählen sodann ihre Adjutanten. Dieser einen aus den Führern und jener zwei aus den Offizieren. Die Offiziere oder Reiter werden nicht wie die Führer gewählt, sondern jeder sich freiwillig Meldende ist hierzu angenehm, denn meist ist doch immer Not am Mann. Zudem ist es nicht jedermanns Sache, ein Pferd zu besteigen und dann ist die Reiterei auch mit ziemlichen Geldkosten verknüpft.

Der Burschenoberst ruft, nachdem die Reiter und Führer vollzählig sind, selbe zu den gemeinschaftlichen Sitzungen zusammen. Hier handelt es sich meist um die Bekleidungsfragen. Bei den letzten Grenzgängen trugen die Reiter dunkelblaue Joppe, hellgraue Beinkleider und hellblaue Schärpe. Der Hut war dunkelgrün mit weißer Straußfeder. Der Oberst und seine Adjutanten trugen als Rangabzeichen schwarz-weiße resp. schwarz-weiß-rote Federn. Die Führer bekleideten sich mit schwarz-weiß-roter Schärpe und grünem Hut mit einfacher Feder. Zu bedauern ist jedenfalls, daß man hier nicht ein für allemal eine bestimmte Kleidung festsetzt und sich gar zu sehr von der Mode bestimmen läßt. So hatten z. B. im Jahre 1900 in der Zeit des Burenkrieges sämtliche Führer Hüte in Form der Burenhüte aufgesetzt.

Zu den originellsten und charakteristischsten Personen des Grenzgangs gehören ohne Frage neben dem Mohr die von den Führern zu wählenden Wettläufer. Leider läßt sich nicht mehr mit Sicherheit der Ursprung und der Zweck derselben feststellen. Heute dienen sie zum Ueberbringen von Botschaften und Anordnungen der Obersten und Führer. Es steht zu vermuten, daß sie früher ähnlichen Zwecken gedient haben. Die originelle Tracht – weiße Hosen, blaue oder rote Jacken, braune Schnürschuhe, Barett mit schwarz-weiß-roten Straußfedern und die unvermeidliche Peitsche – lassen die Wettläufer von allen sehr abstechen und machen sie dadurch zu den meist beäugten Personen, besonders für die fremden Besucher des Grenzgangs.

Ebenso geht es mit dem Mohr. Die Entstehungsgeschichte desselben ist ebenso dunkel wie er selbst. Wenn man den Ueberlieferungen Glauben schenken darf, so müssen die alten Biedenköpfer arge Schalke gewesen sein. Es wird erzählt, daß wenn die Biedenköpfer Grenzgang gehabt hätten, wären die Nachbargemeinden an der Grenze miterschienen, um aufzupassen, daß selbe nicht gar zu sehr berichtigt würde. Um diese lästigen Beobachter los zu werden, wären die Biedenköpfer auf den Gedanken gekommen, einen Mann als Mohr verkleidet dem Zug voraus zu schicken. Die Landleute, die in ihrem Leben noch keinen

Schwarzen gesehen, hätten denselben in ihrer Herzenseinfalt für den leibhaftigen Teufel gehalten und schleunigst Reißaus genommen. Die schlauen Biedenköpfer hätten dann die Grenze in ihrem Sinne berichtigt. Kostbar ist das Geschichtchen jedenfalls, und wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden. Daß man zu den Wettläufern sowie auch zum Mohr ebenso anständige wie auch körperlich taktfeste Leute nimmt, ist natürlich, denn die Anstrengungen der drei Tage sind solche, die nicht Jedermann auszuhalten im Stande wäre.

Etwas später wie die Burschen erscheinen die Männer auf dem Plane, um ihre Vorbereitungen für das Fest zu treffen. Selbe treten jedoch nicht gleich den Burschen zu beliebigen Vereinigungen zusammen, sondern nach altem Brauch in abgeschlossenen Straßen. Gewöhnlich nimmt der alte Führer vom letzten Grenzgang die Sache in die Hand und ladet die Bürger der betreffenden Straße zur ersten Sitzung ein. Hier kürt man ebenfalls die Führer, Fahnenträger und Begleiter und zwar zu letzteren Posten meist die jüngsten Männer.

Auch bei den Männern geht es urgemütlich her und es ist oft ergötzlich anzuschauen, wie mancher alte Griesgram, der sonst jahraus jahrein nicht aus seinen vier Pfählen kommt, urplötzlich anfängt aufzutauen. Gerade in den Männersitzungen zeigt sich recht die schönste Seite des Grenzgangs. Da sieht man Arm wie Reich, Bürger und Beamte in geselligem Durcheinander, und alle Standesunterschiede, die sonst im Leben so oft hemmend wirken, sind hier verwischt.

Originell sind einige Gebräuche, die sich hier und da bei den Männern erhalten haben, so z. B. der „Fahneneid“! Der erste Führer fordert die in den letzten sieben Jahren zur Straße hinzugekommenen Männer auf, die vom ältesten Manne gehaltene Fahne zu berühren, um damit darzutun, daß sie derselben Treue geloben. Während der halb feierlichen, halb spaßigen Zeremonie hält der Führer eine entsprechende Ansprache. Genau wie bei den Burschen, gibt es auch bei den Männern Offiziere oder Reiter. Die Tracht derselben ist ähnlich der der Burschenreiter, nur mit dem Unterschiede, daß hier statt hellblaue, schwarz-weiß-rote Schärpen getragen werden. Auch bei den Männerführern verhält es sich ähnlich.

Unterdessen, da sich die Bürgerschaft überall zum Feste rüstet, hat auch das Komitee seine Arbeiten emsig weitergesponnen. Mancher, der den Grenzgang von A bis Z mitgemacht hat und alle Einzelheiten nach dem Schnürchen sich abwickeln sieht, denkt vielleicht zu allerletzt an die Summe von Arbeiten und Mühewaltungen, die das Komitee gehabt hat, ehe alles in so schöner Weise „klappte“! Da müssen die Plätze auf dem Festplatz verpachtet werden, dort muß mit auswärtigen Schaustellern korrespondiert werden, hier muß die Festordnung festgestellt, dann auch für die Ausschmückung der Straßen Sorge getragen werden. Weiter kommen die finanziellen Fragen, die Frage um das Feuerwerk usw. usw. Da nun das Komitee die Leiterin des Ganzen ist, so müssen auch noch die dauernd auftretenden Fragen seitens der Führer, Männer und Burschenschaften erledigt werden und daß da manche Sitzung notwendig ist, ist wohl begreiflich. Die vornehmste Sitzung dürfte vielleicht diejenige sein, in welcher der Männeroberst gewählt wird. Nicht, wie bei den Burschen, die Führer, sondern das Komitee wählt den Oberst der Männer. Da dieser das Oberhaupt des ganzen Grenzganges ist, so ist es wohl natürlich, daß das Komitee mit größter Sorgfalt bei der Wahl desselben verfährt. Daß man bei den letzten Grenzgängen die richtigen Männer an richtiger Stelle zu setzen gewußt hat, beweist das vorzügliche Gelingen der Feste.

Endlich nach langem Harren und Sehnen und nach mancher feucht-fröhlichen Sitzung kommt die Zeit heran. Die Witterungsverhältnisse werden schon wochenlang beobachtet und wenn, wie im Jahre 1894, dauerndes Regenwetter vorm Grenzgang ist, sinkt langsam die hoffnungsvolle Stimmung.

Eifrig geht man ein paar Tage vorher an die Ausschmückung der Straßen; besonders ist hier die Frauenwelt bemüht zu zeigen, wie sehr ihnen ebenfalls der Grenzgang ans Herz gewachsen ist. In den Höfen und vor den Türen sieht man sie bis tief in die Nacht sitzen und unter ihren geschickten Händen entstehen bald die endlosen, zum Schmuck so notwendigen Laubgewinde. Auch die Mitglieder des Komitees haben alle Hände voll zu tun, denn es ist keine Kleinigkeit, den Wünschen Aller Rechnung

zu tragen. Wenn der Vorabend naht, ist die ganze Stadt in einen Wald verwandelt und richtige Grenzgangstimmung hat alle erfaßt.

Bald ertönt die erste Musik von den Marktplätzen und viele strömen dorthin, um sich an den lustigen Weisen zu ergötzen. Die Wirtschaften ringsum sind überfüllt und besonders die mit bunten Lampions gezierten Balkone, von wo aus die dunkle Nacht zuweilen durch bengalisches Feuer erhellt wird. Still und stiller wird es dann ringsum und alles hat sich zur Ruhe begeben; aber die meisten werden nicht schlafen können in Erwartung der kommenden Tage.

Da kracht der erste Böllerschuß vom alten Schloßberg nieder und schreckt alle vom Lager auf. Der erste Blick fällt durchs Fenster nach dem Wetter, ist es günstig, wird man sich fröhlich zum Feste rüsten, ist es aber, wie 1894 ein Grenzgangsdichter singt:

„Weite Nebel grau und dicht
Die kein Sonnenstrahl durchbricht“

wird man mißmutig die Fenster schließen und schlecht gelaunt den Tag beginnen. Ja, lieber Leser, auch der Grenzgang hat seine Dichter gefunden und zwar 1872 hat Frau Ellenberger denselben besungen und auch 1894 hat der jetzige Bürgermeister Grünewald nach Art der Schillerschen Glocke den Grenzgang verherrlicht.

Bald dringt Peitschenknallen an unser Ohr und unsere Blicke hängen unwillkürlich an den vorbeisausenden Wettläufern und dem Mohr. Die Tamboure schlagen in gleichmäßigem Tempo den Weckruf, und nach und nach wird es überall lebendig. Männer und Burschen eilen ihren Versammlungsstellen zu, und bald sieht man auch die Burschenschaften mit ihren Bannern nach dem Marktplatze, als dem Hauptaufstellungsorte, marschieren, wo die Führer dem harrenden Hauptmann sofort Meldung von ihrem Erscheinen machen. Während von der einen Seite unter rauschender Musik das Banner der Stadt herangetragen wird, werden von der Schule her die lieben Kleinen herangeführt, alle in festlichen Kleidern und mit glückseligsten Gesichtern. Am Arme hängen die Brezeln, auf die sie sich mehr gefreut haben, wie auf das Christkindchen. Jedenfalls ist dieses Bild eines der lieblichsten des Grenzganges.

Plötzlich hören wir aus den Burschenschaften das Kommando: „Stillgestanden!“ und alle Augen richten sich da hin, wo der Burschenoberst, umgeben von seinen Adjutanten und Offizieren, herangesprengt kommt. Guten Morgen, Burschen! Guten Morgen, Herr Oberst! klingt es militärisch, und alle reihen sich sodann ein.

Während dessen haben sich auch die Männer gesammelt, und man erwartet jetzt das Oberhaupt, den Männeroberst. Nicht lange läßt er auf sich warten; eingeholt vom Komitee und ebenfalls umgeben von seinen Adjutanten und Offizieren, hält er unter Trompetengeschmetter seinen Einzug, von allen Seiten lebhaft begrüßt. Die Aufstellung ist damit beendet, und wenn dann die Frühsonne ihre glitzernden Strahlen über den Marktplatz wirft, entsteht ein farbenprächtiges Bild, welches allen, die es gesehen, unvergessen bleiben wird.

Der Männeroberst gibt das Zeichen zum Abmarsch und der Zug bewegt sich zunächst durch die Oberstadt, um sich dann nochmals auf dem Marktplatz im Kreise aufzustellen, wo der Bürgermeister die übliche Ansprache, welche mit einem Hoch auf den Kaiser endigt, hält.

Dann geht der Zug die Hainstraße entlang nach der Ludwigshütte, wo dicht hinter derselben der Grenzaufstieg beginnt. Steil und mühsam ist der Weg, und wer schlechte Füße und eine schlechte Brust hat, tut gut, sich denen anzuschließen, die auf Streckwegen zu dem Frühstücksplatz, dem „Thälches Triesch“, gelangen. Die ganze Reiterei hat erklärlicherweise ebenfalls Streckwege ausgesucht und sind derhalben die Oberste nicht im Stande, ihre Leute zu mustern; überrascht würden sie auch sein, wenn sie das zusammengeschmolzene Häuflein zu Gesicht bekämen. Wenn auch mancher aus Reih und Glied verschwindet, aber das Banner muß mit über die Grenze, so will es einmal der alte Brauch.

Nach langer Wanderung endlich zeigen Rauchwölkchen an, daß man den Frühstücksplatz erreicht hat und ein Hurrah der durstigen Kehlen begrüßt selben auf’s Freudigste. Das Leben und Treiben, das sich hier entwickelt, ist äußerst interessant. Szenen von solcher Gemütlichkeit und solchem köstlichen Humor spielen sich hier ab, die man wohl sehen, aber nicht beschreiben kann. Schon um diese Frühstücksmorgen im herrlichen Walde wäre der Grenzgang wert, immer gefeiert zu werden.

Hier draußen vollzieht sich das dem Grenzgang so charakteristische „Widerhuppchen“, das heißt das Zeigen des Grenzsteins durch Mohr und Wettläufer. Unter Trommelschlag wird das Opfer zum Grenzstein geführt und hier macht es mit demselben durch dreimaliges sanftes Berühren Bekanntschaft. Daß man hierzu nur solche wählt, bei denen im Geldbeutel der Grenzstein ziemlich weit hinausgerückt ist, ist leicht begreiflich, wenn man bedenkt, daß die genannten drei für ihre Mühewaltung mit einem Obolus belohnt werden. Der Ursprung des „Widerhuppchens“ ist ebenfalls recht schwer nachzuweisen. Die oben schon mehrfach erwähnte Abhandlung gibt uns ja einige Fingerzeige, aber trotzdem bleibt die Sache nebelhaft. Es wird angenommen, daß man die Knaben an die Grenzsteine geführt hat, um ihnen dieselben zu zeigen und hierbei erhielt jeder drei Backenstreiche, damit der Stand der Steine nicht in Vergessenheit kommen sollte. Das „Wiederhuppchen“ soll die Andeutung jenes alten Brauches sein.

Allzu lange darf der Aufenthalt auf dem Frühstücksplatze nicht dauern, will man zur richtigen Zeit zu Hause sein. Weiter geht es also neugestärkt über Berg und Tal, bis man endlich um Mittag die Stadt erreicht.

Gegen 2 Uhr beginnt die Aufstellung von neuem und zwar ähnlich wie morgens. Doch glänzender wird der Zug dadurch, daß diesmal die in Festschmuck prangende junge Damenwelt sich daran beteiligt. Vorwärts mit wehenden Fahnen geht es dann nach dem Festplatz, dem „Seewasen“. Hier ist für alles gesorgt: Wirtschaften, Metzger, Schaubuden, Tanzböden, Karoussell, kurz alles, was jung und alt erfreuen kann. Doch um 10 Uhr abends ist Schluß, denn am anderen Morgen heißt es früh wieder auf.

In der Dämmerstunde wird unser Auge nochmals gefesselt durch das herrliche Feuerwerk am Schloßberg. Raketen und römische Leuchtkugeln steigen vom alten Schloß empor, und bald ist der ganze Berg in ein Feuermeer verwandelt, welches wallend und wogend in allen Farben wechselt und bei allen einen unauslöschlichen Eindruck zurückläßt.

Der zweite Grenzgangstag, wo die andere Hälfte diesseits der Lahn begangen wird, vollzieht sich genau wie der erste. Großartig ist das Bild, wenn der Zug den

Eschenberg entlang marschiert. Das Leben auf dem Frühstücksplatz, der „Hasenhardt“, sowie auch am Nachmittag auf dem Festplatz ist genau wie am ersten Tag.

Auch am dritten Tage, wo die Begehung der Grenze jenseits der Lahn vorgenommen wird, wickelt sich alles ähnlich den beiden vorhergegangenen Tagen ab. Nur kann man beobachten, daß der Zug besonders am Morgen bedeutend schwächer geworden ist, ein Beweis, daß vielen die Strapazen doch zu groß sind. Von dem Frühstücksplatze, dem „Hügeligen Triesch“, geht es dem Schluß der Grenze zu. Am letzten Grenzstein hält der Männeroberst eine kurze Ansprache und dann geht es nach der Stadt, um am Nachmittage unter fröhlichem Zusammensein den Grenzgang zu beschließen.

Am anderen Tag, einem Sonntag, hat jeder Gelegenheit, auszuschlafen. Aber am Nachmittag und Abend kommt man wieder zusammen, um die Erlebnisse der drei Tage gegenseitig auszutauschen. Alle sind sich einig, daß es schön war und alle wünschen, daß der Grenzgang erhalten bleibe.

Und auch wir, freundlicher Leser, die wir über Stock und Stein, bergauf und bergab mitgewandert sind, die wir auf den Frühstücksplätzen und dem Festplatz uns der einträchtigen Fröhlichkeit mit hingegeben haben, schließen uns diesen Wünschen von Herzen an. Möge der Grenzgang Biedenkopf immer erhalten bleiben, denn, wo in einer Bevölkerung noch Sinn und Anhänglichkeit für das Althergebrachte ist, da ist auch noch Liebe zur Heimat vorhanden und in dieser liegen die starken Wurzeln zur Hingabe an das große gemeinsame Vaterland. Diese Hingabe zu hegen und zu pflegen, ist die Pflicht eines Jeden, denn sie tut nirgends nötiger wie in unserer wildgährenden Zeit.

Symbolbild - Verschnörkelung, Originalscan aus dem Buch


Das kleine Originalbuch habe ich im Grenzgangsjahr 1998 eingescannt und die einzelnen Bilder in ein PDF-Dokument zusammengefasst. Die 33,3MB große Datei können sie hier herunterladen:

Download: Der_Grenzgang_zu_Biedenkopf_1907-Wilhelm_Mauss.pdf


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