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Die Stadtkirche zu Biedenkopf

von Christof Schuster

Vor- und Baugeschichte von 1864 - 1891
und Einweihung am 25. November 1891

Weithin sichtbar überragt der massive Bau der Stadtkirche die Häuser der Biedenkopfer Oberstadt. Aber im Gegensatz zur Hospitalkirche, deren Geschichte bis ins Jahr 1417 zurückreicht, entstand die Stadtkirche in ihrer heutigen Gestalt erst in den Jahren 1888 bis 1891. Ihr Vorgängerbau, eine im Grundbestand romanische und später gotisch eingewölbte westfälische Hallenkirche, verfiel trotz mancher Erhaltungsmaßnahmen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr, bis sie schließlich im Jahre 1864 baupolizeilich gesperrt werden mußte. Zu dieser Zeit besichtigte Oberbaurat Müller aus Gießen das Gebäude und fand es in so baufälligem Zustand vor, daß eine Renovierung kaum mehr möglich schien: "Pfeiler und Mauern stehen so schief, daß die Grenze des Gleichgewichts erreicht ist und bei nur geringer Bewegung Einsturz zu befürchten ist." Folgerichtig kam der Baufachmann zu dem Schluß, daß es ratsam sei, die alte Kirche abzubrechen und durch einen Neubau zu ersetzen.
Dies war aber vor allem eine Frage der Finanzierung. Noch im Jahr 1868 - so berichtet es der damalige Pfarrer Cellarius - diskutierte man die Frage der Realisierbarkeit eines Neubaus oder ob man nicht eher eine umfassende Renovierung in Angriff nehmen sollte. Schließlich sei die Frage: "Neubau oder Renovierung" eine Geldangelegenheit,

Seit dem Jahr 1864 fanden die Gottesdienste der evangelischen Kirchengemeinde in der Hospitalkirche statt. Eine später in der Turmspitze der alten Stadtkirche aufgefundene Urkunde spiegelt diesen Zustand und weitere Probleme der Stadt, indem sie berichtet: "Die Stadtkirche ist in baufälligem Zustande (und) deßhalb wird der Gottesdienst schon seit Jahren in der Hospitalkirche abgehalten, welche leider Raum genug für die Kirchenbesucher der Stadt Biedenkopf hat. Der materielle Wohlstand scheint eher im Abnehmen, als im Zunehmen begriffen zu sein."
Die letzte Bemerkung zielt auf die schwierige Lage, in der sich die Stadt insbesondere in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts befand. Durch den Niedergang des Tuchmacherhand-werks, das in seiner Blütezeit von über 200 Meistern betrieben worden war, büßte die Stadt einen ihrer wesentlichen Erwerbszweige ein. Die Folge war eine Verarmung weiter Teile der Stadtbevölkerung und die Flucht aus den mißlichen Verhältnissen durch die Auswanderung nach Amerika. Zeitweise verließen die Stadt jährlich 100 bis 150 Bürger, um ihr Glück in der neuen Welt zu suchen - ein Aderlaß, der fast keine Biedenkopfer Familie verschonte.

Es scheint, daß die Stadtverwaltung in diesen schwierigen Jahren des von ihr kaum zu verhindernden wirtschaftlichen Niedergangs andere Sorgen hatte, als eine umfassende Renovierung oder gar ein Neubau der Kirche.
Ohne einen massiven Beitrag aus der Stadtkasse zu den Baukosten war allerdings überhaupt nicht an einen Baubeginn zu denken. Eine an den Kaiser gerichtete Bitte um einen. Zuschuß wurde hinhaltend beschieden: Zuerst solle die Gemeinde versuchen, einen Teil der notwendigen Gelder selbst aufzubringen.
Diesem Zweck diente der im Jahre 1881 von Pfarrer Gerhard Matthäus gegründete Kirchenbauverein, der aber zunächst nur geringe Spendenmittel aktivieren konnte.
Anfang der 80er Jahre war jedoch eine gewisse Entspannung der wirtschaftlichen und sozialen Lage Biedenkopfs zu verzeichnen. Die Einwohnerzahl nahm zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas zu und betrug um 1880 knapp 2900 Seelen - Indiz für eine bescheidene Verbesserung der städtischen Verhältnisse.

Gerhard Matthäus aus Duisburg war von 1879 bis 1902 Pfarrer an dieser Kirche. Ihm war es vergönnt durch reichliche Gnade Gottes und durch die Freigebigkeit Kaiser Wilhelm I. vergönnt, die dem Evangelisten Johannes geweihte, im Jahre 1864 geschlossene Kirche wiederherzustellen. Nachdem am 2. September 1888 der erste Stein dieser neuzuerrichteten gelegt worden ist,... konnte die jetzige Kirche am 25.November 1891 feierlich eingeweiht werden - Soli Deu gloris, dem Bau- und Pfarrherrn Dank -So kommt im Frühling des Jahres 1883 auch Bewegung in die Angelegenheiten der vor sich hin dämmernden Johanneskirche. Im April dieses Jahres vermeldete ein von auswärtigen Fachleuten angefertigtes Gutachten, daß von der alten Kirche nur der Chor wiederhergestellt werden könnte, dagegen müßten Turm und Schiff abgetragen werden. Im Juni 1883 schätzte der Landrat des Kreises Biedenkopf, Seyberth, die Kosten eines Umbaus auf rund 60.000,-- Mark und stellte in einem Schreiben an den Bürgermeister der Stadt die Frage, welche Mittel dafür zur Verfügung stünden und ob die Kirchengemeinde zumindest einen Teil der Kosten selbst aufbringen könnte. Nach eingehender Beratung dieser Anfrage beschloß der Stadtvorstand in einer Sitzung am 19. Juni 1883 "zu erklären, daß bei den schwierigen finanziellen Verhältnissen der hiesigen Gemeinde der Gemeinderath nicht in der Lage sei, Mittel für das nothwendige Baukapital aufzubringen."

Dies war keine bloße Ausrede. Nur wenige Tage zuvor, im Mai 1883, mußte die Stadt bei der örtlichen Spar- und Leihkasse zur Deckung der laufenden Unkosten ein Darlehen von 2.000,-Mark aufnehmen.

Und auch die Kassenlage der Kirchengemeinde war nicht besser: Pfarrer Gerhard Matthäus, Biedenkopfs Geistlicher von 1879 bis 1902, teilte im Namen des Kirchenvorstandes mit, daß die Kirchengemeinde "aufgrund ihrer gänzlichen Vermögenslosigkeit" keine Eigenmittel erbringen könne. Außerdem fügte er hinzu: "Zur Beurteilung der hiesigen finanziellen Verhältnisse weist die Versammlung darauf hin, daß der von ihrem Vorsitzenden gegründete Kirchbauverein trotz aller Mühe und Arbeit im 3. Jahr nur ein Kapital von 758,-Mark hat aufbringen können."

Das waren keine ermutigenden Aussichten für das Projekt und als die Diskussion 1884 wieder auflebte, bekräftigte der Bürgermeister den Beschluß des Stadtvorstandes, zum Umbau keinen Beitrag leisten zu können und verwies auf die vielfältigen Lasten, die auf der Stadt ruhten. So habe man im Jahr 1881 bei der Erbauung eines neuen Schulhauses (Westflügel der ehemaligen Lahntalschule; heute Rathaus) 40.000,-Mark aufwenden müssen und die Investitionen im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau hätten unlängst 37.000,-Mark verschlungen.

Bürgermeister Jakob Unverzagt, der die Geschicke der Stadt Biedenkopf über 27 Jahre von 1867 bis 1894 leitete, beendete sein ablehnendes Schreiben vom 5. Oktober 1884, indem der kategorisch mitteilte: "Dem gegenwärtigen Beschlusse beehre ich mich noch folgendes hinzuzufügen: Die politische Gemeinde hat der Kirchengemeinde gegenüber keine weiter gefasste Verpflichtung, als bei Unterhaltung der Kirchen- und Pfarrgebäude herkömmlich das Material zu stellen und die Glocken zu unterhalten. Darüber hinaus kann dieselbe bei ihrer derzeitigen Finanzlage nicht gehen, wenn sie ihren eigenen Ruin nicht herbeiführen will."

Als Mitglied des Kirchenvorstandes lag dem Bürgermeister die Wiederherstellung der Kirche aber sicherlich am Herzen. Zugleich verfügte er als langjähriger Abgeordneter des Kreises Biedenkopf im Kommunal- und im Provinziallandtag über weitreichende politische Verbindungen. So war es dann auch nicht zuletzt ihm zu verdanken, daß über den Präsidenten des Kommunallandtages, Regierungspräsident von Wurmb, den Jakob Unverzagt aus der gemeinsamen Tätigkeit im Finanzaus-schuß des Kommunallandtages kannte, eine Bitte um Unterstützung von staatlicher Seite aus eingebracht werden konnte, die dieses Mal größere Aussichten auf Erfolg hatte.
Unterdessen war auch der Kirchenbauverein rührig geblieben und hatte bei einer im Jahre 1886 vom Oberpräsidium genehmigten Kollekte immerhin die stolze Summe von 5.342,-Mark eingenommen.
Am 31. August 1886 stellte der Kaiser eine größere Beihilfe in Form eines "Gnadengeschenkes" in Aussicht. Um diesen Zuschuß zu den Baukosten der Kirche zu erhalten, mußte die Gemeinde Eigenmittel in Höhe von 25.000,-- Mark erbringen. Bürgermeister Unverzagt und der Gemeinderat erklärten sich nun bereit, die von der Kirchengemeinde aufzunehmenden Darlehen zur restlichen Finanzierung des Bauvorhabens zu verbürgen.

Am 30. September 1887 wurde daraufhin in Berlin ein Schreiben verfaßt, daß die erlösende Wende im Ringen um die Finanzierung der neuen Stadtkirche bringen sollte:
"Ihre kaiser- und königliche Majestät haben mittels allerhöchster Ordre vom 31. August d. J. zum Umbau bzw. Ausbau der Stadtkirche in Biedenkopf ein Gnadengeschenk bis zum Betrage von 42.600,-- Mark (...) zahlbar in 2 gleichen Jahresraten zu bewilligen geruht mit der Maßgabe, daß vor der Auszahlung der ersten Jahresrate der Nachweis gesicherter Regocirung der zur Deckung des noch fehlenden Baukostenbetrages von der ev. Kirchengemeinde Biedenkopf beschlossenen Anleihe von 17000 Mark zu führen ist."

Der "Hinterländer Anzeiger" vom 11. Oktober 1887 drückte aus, was viele Biedenkopfer wohl damals dachten: "Wir sind überzeugt, daß dies Geschenk die Liebe und Treue zu unserem Kaiser und König, dem gewiß jedes Glied unserer Gemeinde beim Lesen dieser Zeilen seinen Dank im Herzen darbringen wird, von Neuem stärken und mehren wird. Wir aber rufen: Gott, segne, schütze und erhalte den Kaiser!" Der Kirchenvorstand richtete sofort eine Dankadresse nach Mancherlei Erwartungen knüpften sich darüber hinaus an den nun endlich in greifbare Nähe gerückten Neubau.
Der "Hinterländer Anzeiger" faßte diese Hoffnungen zusammen: "Nun aber eine gewiß berechtigte Bitte an die Gemeinde, nämlich die, den Dank gegen Se. Majestät den Kaiser, auch durch die That zu bezeugen. Wie könnten wir aber das besser als dadurch, daß wir seinem erhabenen Vorbilde folgen, der es sich nicht nehmen läßt, Sonntag für Sonntag das Gotteshaus zu besuchen. Wir hoffen und man hat es uns 100mal versichert, daß die Wiederherstellung der Stadtkirche auch einen besseren Kirchenbesuch nach sich ziehen werde. Nun denn, so wäre es uns lieb, wenn so Viele bei uns, die im Laufe der Jahre sich von der Kirchenluft sich ganz entwöhnt haben, allmählich anfingen resp. den Versuch machten, diese Luft einzuatmen. Möchte dazu die Hospitalkirche gleichsam die Übergangsstation sein, wie die Curorte der Schweiz solche bilden vom sonnigen Süden zum kälteren Norden."

Mit dem kaiserlichen "Gnadengeschenk" waren endlich die notwendigen finanziellen Voraussetzungen für einen Neubau gegeben. Die Kirchengemeinde entschloß sich nun, einen Kredit bei der Hessischen Landesbank aufzunehmen und bat die politische Gemeinde, gemäß deren Versprechen die Bürgschaftsgarantie für Verzinsung und Tilgung zu übernehmen. Dem stimmte der Stadtvorstand zu und in einem ausführlichen Schreiben an den "Königl. Regierungspräsidenten Wirklichen Geheimen Oberregierungsrath von Wurmb. Hochwohlgeboren zu Wiesbaden" stellte Bürgermeister Unverzagt am 20. Dezember 1887 noch einmal die langandauernden Bemühungen zur Bereitstellung des Baukapitals dar: In die Amtszeit von Bürgermeister Jakob Unverzagt fällt der Bau der Stadtkirche"Die schon seit längeren Jahren angestrebte Wiederherstellung beziehungsweise Umbau der seit dem Jahr 1864 wegen Baufälligkeit polizeilich geschlossenen alten Stadtkirche ist ihrer Verwirklichung näher gerückt, nachdem lt. Anlage 1 seine Majestät der Kaiser der hiesigen Kirchengemeinde zu diesem Zwecke ein Gnadengeschenk von 42.600 Mark zu bewilligen geruht hat. Daraufhin hat der Kirchenvorstand nach der Anlage 2 die Ausführung des von dem Herrn Minister der geistlichen Angelegenheiten genehmigten Baus weiter beschlossen, die dem Baukapital von 75.900 noch fehlende Summe von 25.000 Mark (8.300 Mark sind durch eine Collekte und freiwillige Beträge aufgebracht) auf dem Wege einer Anleihe aufzubringen, gleichzeitig aber den Stadtvorstand zu ersuchen, namens der politischen Gemeinde die Verzinsung und Tilgung dieser Rücksicht darauf, daß Biedenkopf eine evangelische Stadt ist, beschlossen, die Zinsgarantie zu übernehmen.
Der Mangel an einem entsprechenden Gotteshause hat nicht verfehlt, auf den Kirchenbesuch und das religiöse Leben überhaupt wesentlichen Einfluß zu üben. Eine Wiederbelebung desselben erscheint daher dringend geboten. Von diesem Gesichtspunkte aus, hat dann auch der Gemeinderath es als seine Pflicht betrachtet, zur Verwirklichung der Wiederherstellung der Stadtkirche unterstützend beizutragen.
Ew. Hochwohlgeboren erlaube ich mir hiermit gehorsamst zu bitten, den Beschluß des Gemeinderathes (...) genehmigen zu wollen.

Der Bürgermeister
Unverzagt"

Die Oberaufsicht über den Bau wurde in die Hände des Königlichen Regierungs-Baumeisters Hesse gelegt. Als sachkundiger Leiter der Arbeiten wurde Kreisbauinspektor Lauth bestimmt. Ihm zur Seite stellte Wiesbaden den Reg. Baumeister Völker, der später leider allerlei Verzögerungen des Baus zu verantworten hatte.
Ende November 1887 stellte Bauinspektor Lauth die revidierten Pläne auf einer Generalversammlung des Gewerbevereins in "Magnus' Saal" der Öffentlichkeit vor und wandte sich gleichzeitig aus bautechnischen Gründen gegen Bestrebungen, den alten Turm der Kirche beizubehalten. Von der alten Kirche sollte seiner Meinung nach nur der Chor stehenbleiben. Am 5. März 1888 begann ebenfalls unter Leitung von Bauinspektor Lauth das Ausräumen des Kircheninneren. Das dabei anfallende Holz wurde versteigert. Einige Ausstattungsstükke, darunter zunächst auch die wertvolle Kanzel und das Chorgestühl, wurden für die neue Kirche aufbewahrt.
Die Ausschreibung der Bauarbeiten brachte der Baufirma Bang & Baumbach aus Marburg den Zuschlag. Sie wurde mit den Abbruch- und Erdarbeiten, sowie den Maurer-, Steinmetz-, Zimmer-, Dach- und Klempnerarbeiten beauftragt. Bauunternehmer Baumbach siedelte auch alsbald nach Biedenkopf über.
Leider stellte sich heraus, daß die ursprüngliche Schätzung, die, wie aus dem Schreiben von Bürgermeister Unverzagt hervorging, von einem Gesamtpreis von 75.900,-- Mark ausging, infolge unvorhersehbarer Teuerungen wohl erheblich überschritten werden würde.

Die Beseitigung des Kirchendachs war der erste große Schritt bei den AbbrucharbeitenEFür das behutsame Abdecken des Kirchturms war der Dautpher Dachdeckermeister Reuter verantwortlich.nde April 1888 wurde den Bauleuten als Baubüro das "Actenzimmer" des Rathauses zur Verfügung gestellt, freilich nicht ohne die Bemerkung des sparsamen Stadtoberhauptes, daß die Kirchengemeinde selbst die Kosten für Reinigung, Heizung und Beleuchtung zu übernehmen habe.

Manche Stürme, Plünderungen und Stadtbrände hatte die alte Johanneskirche in ihrer über 600jährigen Geschichte trotz der schwerwiegenden Konstruktionsmängel überstanden. Nun begannen am 29. Mai 1888 die Abbrucharbeiten. Zunächst wurde das Dach des Kirchenschiffes beseitigt. Dann wandte man sich dem gotischen Dachhelm des Turmes zu.
Der "Hinterländer" berichtete unter dem Datum des 2. Juni: "Nachdem die seit dem 29. Mai begonnenen Abruchsarbeiten des Kirchendaches der hiesigen Stadtkirche nahezu vollendet waren, wurde heute nachmittag 3 Uhr das Thurmkreuz mit Kugel und Hahn durch den Dachdeckermeister J. Reuter aus Dautphe ohne jeden Unfall abgenommen.

Das aus Schmiedeeisen gefertigte, etwa 4 m. hohe Kreuz und der aus Kupferblech hergestellte Hahn waren in gutem Zustande erhalten, dagegen war die Kugel vielfach beschädigt und ließ, ihrer Form nach zu urtheilen, auf kein hohes Alter schließen. In derselben wurde außer einem Starneste nichts gefunden.
Dagegen fand sich unter den vier, die Helmstang umschlingenden Federn und Ringen des Kreuzes eine kleine Urkundenkapsel aus Blei gefertigt, von 5 cm. Durchmesser und 7 cm. Höhe, deren Deckel durch einen schwachen Kupferdraht befestigt, im übrigen nicht mit der Kapsel, wie sonst stets üblich, verlötet war. Seitens der Bauverwaltung wurden der Kirchen- und Gemeinde-Vorstand, der Herr Landrath, die Herren Amtsrichter und Gymnasiallehrer u.s.w. eingeladen, der Eröffnung der Kapsel am heutigen Abende im Balbachschen Saale beizuwohnen, welche durch den Herrn Bauinspector Lauth in Gegenwart zahlreich erschienener Geladener erfolgte. Hierbei zeigte sich, daß in der Kapsel nur Urkunden enthalten waren, welche aber in Folge des höchst mangelhaften Verschlusses der Kapsel sehr beschädigt waren (...). In ein Blatt der Hessischen Morgenblätter vom May 1870 eingewickelt, beziehen sich die Urkunden auf die verhältnismäßig kurze Zeit von 1787 bis 1870, erwähnen aber auch ein großes Brandunglück der Stadt im Jahre 1717 und geben für die Geschichte derselben innerhalb des abgelaufenen Jahrhunderts immerhin bedeutsame Anhaltspunkte.

Für die Abbrucharbeiten benötigten die Handwerker in 1888 etwa zwei Monate - zum Foto stellten sie sich vor dem WestportalFür die Abbrucharbeiten benötigten die Handwerker in 1888 etwa zwei Monate - zum Foto stellten sie sich vor dem WestportalWas den Grundstein der Kirche anlangt, welcher gewöhnlich unter dem Chore eingesenkt wurde, so ist es fraglich, ob derselbe aufgefunden wird, da der Chor erhalten bleiben soll. Dieser Theil der Kirche ist freilich der jüngste derselben und (es) läßt sich, da die eigentliche Kirche nach ihrer Grundriß-form aus dem 12. oder 13. Jahrhundert stammen wird, nur annehmen, daß der Chor durch einen Umbau des 15. Jahrhunderts seine jetzige Form gefunden hat. (...)

Am Abende wurde der bekränzte Thurmhahn in üblicher Weise von den Dachdeckern durch die Stadt herumgetragen. Möge auch ferner ein gütiges Geschick über den Abbruchsar-beiten walten und keinen Unfall bei den noch bevorstehenden schwierigen Aufgaben eintreten lassen."

Mitte Juni 1888 stellte man fest, daß der Steinbruch an der biete und die Firma Bang & Baumbach begann mit dem Abbruch des eigentlichen Gebäudes.
Eine zwischen Pfarrer und Gemeindevorstand aufbrechende Meinungsverschiedenheit über das Eigentumsrecht an den Glocken wurde auf Vermittlung von Bürgermeister Unverzagt, der als Mitglied von Kirchenvorstand und Gemeinderat unterzeichnete, mit einem Kompromiß beigelegt: Kirchen- und Stadtgemeinde konnten danach die Glocken "jederzeit unbehindert" zu kirchlichem, aber auch "bürgerlichem und politischem Geläute" nutzen.

Ende Juni waren die Abbrucharbeiten in vollem Gange. Eine Polizeiverordnung verbot das Betreten des Bauplatzes wegen akuter Gefährdungen und man errichtete einen Bauzaun um das Gelände.
Zwei Monate später war der Abbruch der Kirche dann weitgehend beendet. Als Termin für die feierliche Grundsteinlegung setzte man den 2. September 1888 fest.

Eine Bekanntmachung des Bürgermeisters vom 30. August zeigt, wie es auf dem Gelände um die Kirche zu diesem Zeitpunkt aussah:
"Bei der am 2.ten September stattfindenden Grundsteinlegung zu der neuen Stadtkirche wird das Betreten der in der Nähe des Bauplatzes aufgeschichteten Steinhaufen wegen der damit verbundenen Gefahr zur Vermeidung somit unvermeidlicher Unfälle unter Strafandrohung hiermit strengstens untersagt."
Der spätgotische Chor der Johanneskirche soll der Baugeschichte zufolge während der Abbrucharbeiten eingestürzt seinDer spätgotische Chor der Johanneskirche soll der Baugeschichte zufolge während der Abbrucharbeiten eingestürzt seinAm 2. September 1888 beging man die Grundsteinlegung der neuen Kirche unter großer Anteilnahme der Bevölkerung. Eine photographische Aufnahme hielt das Geschehen vom höchstgelegenen Fenster des gegenüberliegenden Rathauses fest.
Die Aufnahme zeigt die zunächst erhalten gebliebenen Gebäudeteile: den Chor (Apsis bis oberhalb der gotischen Fenster), sowie Teile der Westmauern mit der Sakristei. Erhalten blieb - bis heute - auch die "Notgottes-Kapelle".
Chor und Mauern waren im übrigen durch Girlanden, Fahnen und Kränze geschmückt. Im Chorraum war ein provisorischer Altar mit dem Kruzifix der alten Kirche errichtet worden. Die Lokalzeitung berichtete ungewöhnlich ausführlich über die Feierlichkeiten:
"Um 9 1/2 Uhr bewegte sich der Festzug, wie einem solchen Biedenkopf wohl selten zu sehen Gelegenheit hatte, von der Hospitalkirche nach dem auf das schönste geschmückten Bauplatze.

Programm Einweihung StadtkircheProgramm zur Feier der Grundsteinlegung zum Bau der neuen Stadtkirche

Text der Urkunde, die anläßlich der Grundsteinlegung am 2.9.1888 im Grundstein verschlossen wurde


"Im Jahre 1888 am 2. September dermalen nach dem Hinscheiden Kaiser Wilhelm I. und der kurzen Regierung Friedrich III. wird unter Wilhelm II. vielversprechendem Scepter, nachdem sowohl durch den, vom Stadtpfarrer Matthäus in's Leben gerufenen Kirchenbau-Verein, als auch durch die Hauskollekte in der Provinz Hessen-Nassau und mit Hilfe Bürgschaft des hiesigen Stadtvorstandes, sowie zum größten Theile durch ein allerhöchstes Gnadengeschenk seiner Majestät Kaiser Wilhelms I. die Geldmittel zusammengebracht waren, und, nachdem dann die alte aus dem 13. Jahrhundert stammende Kirche wegen Baufälligkeit bis auf den um 1500 erbeuten Chor niedergelegt worden ist, zur Errichtung eines neuen Kirchenschiffes und Thurmes nach einem Königl. Preuß. Ministerium der öffentlichen Arbeiten durch den Geheimen Oberbaurat Adler festgestellten Bauplane, welcher durch den Königl. Regierungsbaumeister Völker unter Oberleitung des Königl. Kreis-Bauinspectors Lauth und in technischer Oberaufsicht des Geheimen Regierungsraths Cremer von der Königl. Regierung zu Wiesbaden ausgeführt werden soll, am heutigen Gedenktage deutscher Geschichte auf dem festlich geschmückten Bauplatze unter Betheiligung der Behörden und der ganzen Bürgerschaft der Stadt Biedenkopf dieser Grund- und Eckstein gelegt und nach Verlesung dieser Urkunde durch den zeitigen Stadtpfarrer Matthäus vom Dekan Cellarius geweiht: im Namen des dreieinigen Gottes, der dies Werk als Sein Werk segnen wolle und den allein Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen"

Die Grundsteinlegung für die neue Stadtkirche wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung gefeiert.
Deutlich erkennbar sind Teile der Johanneskirche erhalten geblieben.

Alle Räume und Plätze waren dicht gedrängt von Festtheilnehmern und die umliegenden Häuser waren bis in die obersten Dachfenster besetzt. Wenn bei dieser gewaltigen auf dem verhältnismäßig beschränkten und sehr vertheilten Raume keinerlei Gedränge und Unordnung entstand, so ist dies nur dem umsichtigen Arrangement des Festausschusses zu verdanken. Nachdem die Gemeinde, unter Begleitung der Musik 'Lobet den Herrn' gesungen, betrat Herr Pfarrer Matthäus die Stufen des Altars und gab in einem Gebet den Gefühlen der Kirchengemeinde wärmsten Ausdruck.

Herr Dekan Cellarius hielt dann die Festrede. (...)" Er erwähnte, "daß alle Anstrengungen, die von der Gemeinde und einzelner besonders thätiger Mitglieder gemacht wurden, wohl doch nicht so schnell zum Ziele geführt hätten, wenn nicht Sr. Majestät Kaiser Wilhelm I. kurz vor seinem Tode eine bedeutende Summe zu diesem Zwecke gespendet" hätte.
"Die nun folgende Motette 'Machet die Thoren weit und die Thüren der Welt hoch', vorgetragen von den 3 vereinigten hiesigen Gesangvereinen trug wesentlich zur Erhöhung der Feierlichkeit bei.
Herr Pfarrer Matthäus erinnerte in begeisterter Rede an den ersten Gedanken zur Errichtung einer neuen Kirche, mit welchen Hindernissen gekämpft, welche Schwierigkeiten zu überwinden gewesen und wie endlich durch die Gnade des Kaisers das kaum für möglich gehaltene Werk doch so schnell seiner Vollendung entgegengeführt werden konnte."
Der Pfarrer verlas sodann eine von ihm erstellte Urkunde, die zusammen mit einer "Schilderung der gegenwärtigen Verhältnisse der Stadt Biedenkopf, verfaßt von Bürgermeister Unverzagt, den alten Urkunden aus der Turmspitze, den Statuten des Kirch-Bauvereins, einem Aufruf 'an die evangelischen Glaubensgenossen betreffd.: Beschaffung von Geldmitteln für den Kirchenbau', Programmen der Grundsteinlegung, einer Ansicht der Stadt Biedenkopf, Bildern und Plänen der Kirche, Zeitungen und Münzen in den Grundstein eingefügt wurden. Es folgten Hammerschläge und feierliche Worte aller am Bau Beteiligten und zahlreicher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Stadt.
Schließlich weihte Dekan Cellarius "den Grundstein zum Grund-und Eckstein des neuen Gotteshauses und der Gemischte Chor trug die Motette 'Hoch thut euch auf, ihr Thoren der Welt!' usw. in schön vollendeter Form vor. Nachdem der Segen ertheilt und die Gemeinde das Lied 'Nun danket alle Gott' gesungen, endete die erhebende Feier, die wohl jedem, der derselben beigewohnt, für immer im Gedächtnis bleiben wird."

Nach diesem Festakt begannen die eigentlichen Bauarbeiten an der neuen Kirche. Sehr schnell stellte sich heraus, daß der Abbau an der Pinnhecke wohl doch nicht den enormen Bedarf an Baumaterial befriedigen konnte und man legte einen zweiten Steinbruch am Leiseköppel an.
Am 12. Oktober 1889 konnte der interessierte Leser dem "Hinterländer Anzeiger" entnehmen, daß die Bauarbeiten langsam, aber stetig vorwärts gingen und die neue Kirche im Rohbau fast vollendet sei: "Unsere neue evangelische Kirche gibt in Wirklichkeit eine Zierde für unsere Stadt und hätte dieselbe auch keinen schöneren Platz als ihren jetzigen erhalten können. Rings um die Stadt sieht man von allen Seiten den erhabenen Bau, an dessen Thurm seit Anfang dieser Woche die Zimmerleute der Firma Bang und Baumbach mit Aufschlagen beschäftigt sind. Wie wir hörten, wird der neue Kirchthurm noch 5 Meter höher als der seitherige alte Thurm werden und wird sich derselbe bei 50 Meter Höhe stattlich ausnehmen. Hoffentlich wird das Aufschlagen wie die übrigen Arbeiten noch ohne Unfall zu Ende gebracht werden."

Am 5. November 1889 konnte man schließlich das Richtfest feiern.
Dabei wurde in den Mastbaum der Turmspitze eine von Spenglermeister Pfeil gestiftete kupferne Büchse eingeschoben, die u.a. eine von Pfarrer Matthäus verfaßte lateinische Urkunde enthielt.

Ursprünglich hatte man geplant, das neue Gotteshaus endgültig bis Ostern 1890 fertigstellen zu können. Man mußte aber bald einsehen, daß dieser Termin nicht einzuhalten war. Die Baufirma wurde schließlich sogar unter Konventionalstrafe genommen, um einen schnelleren Fortgang des Aufbaus zu erzwingen. Im April 1890 beschwerte sich die Firma Bang & Baumbach in einem Schreiben an den Stadtvorstand, daß sie beim "hiesigen Kirchenbau ungeheure Summen verlieren" würde. Herbeigeführt seien diese Verluste durch angeblich falsche Angaben des Bauinspektors Lauth und durch gestiegene Arbeitslöhne.

Hatte man in den Vorjahren zunächst einen Umbau und somit eine Renovierung der alten Kirche unter Verwendung bestehender Gebäudeteile geplant, so konnte man bereits zu diesem Zeitpunkt von einem völligen Neubau sprechen. Von der früheren Stadtkirche blieben lediglich die Notgottes-Kapelle an der dem Eschenberg zugewandten Seite und die Sakristei erhalten, die mit Diabas umkleidet wurde. Außerdem wurde das große, an der Südseite befindliche spätgotische Maß-werkfenster mit zwei Mittelpfosten an der Südwand über der Sakristei wieder eingebaut.
Der spätgotische Chor der Kirche aus dem 15. Jahrhundert war im Verlauf der Bauarbeiten eingestürzt und man rekonstruierte ihn auf den alten Grundmauern mit den alten Fenstern, den Wasserspeiern, den Kapitellen und dem Gewölbe-schlußstein orginalgetreu. 

Die Urkunde in der Turmspitze

 Sie wurde beim Richtfest am 5. November 1889 niedergelegt

Text der lateinischen Urkunde in der Turmspitze (5.11.1989)

   Postquarn anna • praecedente die secundo mensis Septembris, quo die ante undeviginti annos gratia atque auxilio Dei omni-potentis Guilelmo I. imperatore duce gentes Germaniae unitae victoriam splendidissimam de Gallis apud Sedanum lodum reportaverunt, hujus ecclesiae exstruendae pri-mus lapis positus ac quidem meridionali turris parte et, tabulis, quibus memoria hu-jus festus retineretur, illic depositis, quadra conclusus est, hodie die quinto Novembris mensis anno post Christum natum MDCCCLXXXIX. turris ecclesiae restauratae ad finem perductus est et ad memoriam perpetuam in malo antea cavato,' qui sum-mum turris culmen est.

   Deo sit gratia, quod per hos duos annos, cum aedificium pristinum demolitum et novum templum aedificatum est, hihil adversi accidit, gratia hominibus, quoque, qui verbo et facto adjuverunt, ut hunc diem oppido et imprimis nostro coetui evangelico gravissimum celebrae possimus, imperatori Guilelmo, qui precibus Matthaei parochi Duisbur-gensis, cui ex decem annis munus ecclesiasticum apud Bidencapienses mandatum est, commotus, maximan partem summae ad pristinum templum restaurandum necessariae nobis dedit, gratia magistratui hujus oppidi, qui de versura, qua ad aedificationein nobis pro o opus fuit, praestitit, gratia Hessio atqe Voelckero architectis, qui summa arte atque industria operi praefuerunt, ut nunc, postquam pristina ecclesia Joanni Evangelistae didicata, quae viginti quinque annos clausa fuit, animis laetissimis spe-rare liceat nos futuor anno templum inaugurare posse, quod, ut decus oppidi erit, sic. pietatem incitabit atque confirmabit. Quod Deus bene vertat. Amen.

Datum Bidencapii die v. m. Sept. anno MDCCCLXXXIX.

In wörtlicher Übersetzung:

   Nachdem im vergangenen Jahre, am 2. September, dem Tage, an welchem vor 19 Jahren durch des Allmächtigen Gnade und Hülfe unter Kaiser Wilhelms des Ersten Führung die Völker des geeinten Deutschlands den so glänzenden Sieg über die Franzosen bei Sedan errungen haben, der Grundstein zu dem neuen Gotteshause gelegt, und zwar an der südlichen Seite des Thurms und nach Niederlegung der Dokumente, durch welche das Andenken dieses festlichen Tages festgehalten werden sollte, mit einer Platte geschlossen worden, wurde heute am 5. November des Jahres 1889 nach Christi Geburt der Thurm der wiederhergestellten Kirche vollendet und zur beständigen Erinnerung in dem vorher ausgehöhlten Maste, der die höchste Spitze des Thurmes bildet, diese vom Pfarrer Matthäus verfaßte Urkunde niedergelegt.

   Gott sei Dank, daß während dieser beiden Jahre, da das alte Gebäude niedergerissen und ein neues Gotteshaus erbaut wurde, kein Unglück geschehen. Dankt auch den Menschen, die durch Wort und That dazu geholfen, daß wir diesen für unsere Stadt und die evangelische Gemeinde derselben so bedeutungsvollen Tag begehen können, vor allem dem Kaiser Wilhelm, der, bewogen durch die Bitten des Pfarrers Matthäus, eines Duisburgers, welcher seit 10 Jahren das geistliche Amt in Biedenkopf bekleidet, den größten Theil der zur Wiederherstellung des alten Gotteshauses nöthigen Summe uns gegeben, Dank dem Magistrate dieser Stadt, der für die weitere Summe, deren wir zum Bau bedurften, die Bürgschaft übernommen, Dank den Baumeistern Hesse und Völcker, die mit höchstem Geschick und Fleiß "das Werk geleitet, so daß wir, nachdem die alte, dem Evangelisten Johannes geweihte Kirche 25 Jahre geschlossen gewesen, nunmehr fröhlichen Herzens hoffen dürfen, im kommenden Jahr ein Gotteshaus weihen zu können, das wie es der Stadt zur Zierde gereichen, so den religiösen Sinn beleben und stärken wird.
Das walte Gott in Gnaden. Amen!

Gegeben zu Biedenkopf, d. 5. November 1889.

Die Rippen des Schlußgewölbes im Chorraum sitzen auch in der neuen Kirche auf quadratischen Steinkonsolen, die wiederum gestützt werden von vier hockenden Gestalten. Es sind Tropfsteinkapitelle, die aus der Zeit der Erbauung des spätgotischen Chores stammen und die verschiedenen Stände, die einst die Last des Kirchenbaus getragen hatten, versinnbildlichen sollen. Auch bei den äußeren Strebepfeilern des Schiffes wurden behauene Sandsteine wiederverwendet, wie man überhaupt überall dort, wo es möglich war, alte Bruchstücke in • das neue Bauwerk einfügte. Schließlich wurde der gotische Turmhelm der alten Kirche ebenfalls in seiner alten Form wiederhergestellt.
Insgesamt respektiert der Neubau in seinen Maßen und in seiner Konstruktion die Vorgaben der alten Kirche. So entstand ein neues Gebäude, das an die lange Tradition des Vorgängerbaus glücklich anzuknüpfen imstande war.

Leider gerieten die Bauarbeiten in den Jahren 1890 und 1891 immer wieder ins Stocken und durch Teuerungen entstanden neue Finanznöte.
Außerdem kam es zu Auseinandersetzungen mit dem zuständigen Reg.-Baumeister Völker, der dringende Abrechnungen nicht fertigstellte, so daß sich der Stadtvorstand genötigt sah, der Regierung die Abberufung Völkers nahezulegen.
Aber auch die Ausstattung der neuen Kirche machte Sorge. Längere Zeit hindurch konnte man sich über Details nicht einigen und nicht immer konnte sich der Kirchenvorstand in Einzelfragen zu einer raschen Entscheidung durchringen. Unstrittig war allerdings, daß einige Teile des geschichtlich wertvollen Wandschmucks der alten Kirche wiederverwendet werden sollten: So wurden in die Wand neben dem Altarraum einige Grabplatten eingefügt, die bereits in den Boden des Chorraums der früheren Kirche eingelassen waren; darunter eine Messingplatte für Pfarrer Hiltwin Budicker († 1520) und ein kleines Relief für den ersten evangelischen Pfarrer Biedenkopfs, Gerlach Walter mit seiner Familie.
Auch das Taufbecken mit der Umschrift "1682 ist Johann Herman der Hospitamensus gewesen" wurde wieder aufgestellt. Es steht vor den Stufen des Chorraumes und stammt, wie die Umschrift verrät, wohl ursprünglich aus der Hospitalkirche.

Mitte April 1890 brachten die Dachdecker den Schieferbelag des neuen Turmes auf und man befestigte das eiserne Kreuz mit dem Wetterhahn an seiner Spitze.

Wiederum war der Redakteur des "Hinterländer Anzeiger", Heinzerling, ein aufmerksamer Beobachter: "Nachdem vorgestern dem Thurm der neuen Stadtkirche das eiserne Kreuz aufgesetzt worden, wurde auch gestern Vormittag der Wetterhahn wieder in seinen früheren Sitz gebracht, von da aus uns derselbe nun wieder die Richtung der Winde und somit das Wetter anzeigen wird. Hoffentlich wird er dasselbe für die Zukunft besser als gleich am ersten Tage melden."

Ende Mai des Jahres 1890 strebte der Bau endlich seiner äußeren Vollendung entgegen. Von dem nunmehr stattliche 50 Meter messenden Turm, wie auch am Kirchenschiff wurden die Gerüste abgenommen. Im Turm wurde ein Gerüst für die Glocken aufgeschlagen. Die Glocken der Stadtkirche waren übrigens zwischenzeitlich an einer provisorischen Holzkonstruktion oberhalb der Hainstraße am Schloßhain angebracht gewesen.

Sie läuteten am 21. Juni 1890 "nach über zwei Jahren zum ersten mal wieder in unserer neu erbauten Kirche. (...) Dieselben wurden im Laufe er vorigen Woche von einem Glockengießer aus Sinn aufgehangen. Wem das schöne harmonische Geläut-unserer 3 Glocken von früher noch im Gedächtnis war, hatte auch Sehnsucht hiernach, dasselbe wieder einmal zu hören." So berichtete der Redakteur der Heimatzeitung und demonstrierte damit gleichzeitig, wie sehr die heimatverbundene Bevölkerung Biedenkopfs am Fortgang der Bauarbeiten und an der Entstehung des stattlichen neuen Gotteshauses Anteil nahm.

Im Inneren des Neubaus wurden zu diesem Zeitpunkt bereits die Wände getüncht, aber dennoch schien der Tag der feierlichen Einweihung - auch wegen der noch weitgehend fehlenden Innenausstattung - noch nicht absehbar zu sein. Noch einmal mußte der Rat der Stadt am 13.10.1890 wegen der ständig steigenden Baukosten einen Darlehensbetrag von 8.000,-- Mark verbürgen und erst nach langem Zögern gestattete die Regierung den Verkauf der alten Renaissancekanzel aus dem 17. Jahrhundert und des Chorgestühls nach Frankfurt, um dadurch den Baufonds aufzustocken - ein unersetzlicher Verlust für die neue Kirche.

Die Kanzel war übrigens vor dem 2. Weltkrieg in der Nikolaikirche in Frankfurt aufgestellt und überstand das Inferno des Krieges leider nur als Torso. Sie wird heute, wie auch das Chorgestühl im historischen Museum in Frankfurt aufbewahrt.

In Memoriam Gerlach Walther: Die Grabplatte für den ersten evangelischen Geistlichen der Gemeinde.Die Grabplatte für den ersten evangelischen Geistlichen der Gemeinde wurde aus der Johanneskirche in die Wand neben dem Altarraum übernommen.

Grabplatte Hiltwin Budeckers, letzter katholischer Pfarrer der Biedenkopfer Gemeinde, der 1520 verstorben war.Vom Chorraum aus fällt der Blick auf die Grabplatte Hiltwin Budeckers, letzter katholischer Pfarrer der Biedenkopfer Gemeinde, der 1520 verstorben war.

Für die Innenausstattung der neuen Kirche gingen einige Spenden von zumeist ehemaligen Biedenkopfer Bürgern ein. Die Chronik der Stadt nennt Geber und Gaben:
"An Schenkungen für das neue Gotteshaus sind zu erwähnen das von dem Maler Gg. Engelbach zu Berlin, einem geborenen Biedenkopfer schon im Jahre 1883 gestiftete schöne Altarbild, das anfänglich in der Hospitalkirche aufgehängt war, der Krystall Kronleuchter des Herrn Carl Hosch zu Haida mit der Widmung: "Seiner lieben Vaterstadt gewidmet von Carl Hosch - Haida in Böhmen 23. Juni (...) 1884."
Der gebürtige Biedenkopfer Theodor Hosch aus Frankfurt und seine Frau, eine geborene Dörr, stifteten eine kostbare Altardecke aus dunkelblauem Samt.
Die neue Orgel wurde von der Firma J.G.Weigle in Stuttgart geliefert. Sie war nach dem damals neuen System der Röhrenpneumatik erbaut und wurde am 12. Oktober 1891 durch Musikdirektor Wolfram aus Dillenburg abgenommen. Die Kunstglasarbeiten führte die Marburger Firma K.J. Schultz aus. Die neue Kanzel stammte aus der Kunstanstalt von G. Kuntz in Wernigerode.

Über all dem war viel Zeit ins Land gegangen und die dauernden Verzögerungen der Einweihung ließen die Bürger der Stadt allmählich ungeduldig werden. So machte der Redakteur im "Hinterländer Anzeiger" vom 16. Oktober 1891 einem allgemeinen Unmut Luft: "Man erzählt sich in der Stadt, daß der Termin zur Einweihung unserer Stadtkirche abermals her-ausgeschoben werden solle und zwar - bis zum nächsten Jahre!! Da die Orgel bereits abgenommen, auch die Kanzel schon seit mehreren Tagen angebracht ist und, wie wir hörten, nur noch der Lackanstrich der Bänke und die Fertigstellung des Anstrichs im Chor aussteht, so fragt man sich allgemein, warum denn die Weihe des Gotteshauses abermals um ein Bedeutendes verschoben werden soll. Es sollte erfreulich sein, wenn dies Gerücht eben blos als ein Gerücht aufzufassen wäre."

Samtkissen und SchlüsselAm Mittwoch, dem 25. November 1891 war es dann trotz der anderslautenden Gerüchte endlich soweit: Die neuerbaute Stadtkirche konnte eingeweiht werden. Der "Hinterländer Anzeiger" beschloß die Chronik der Vorgeschichte und der Erbauung der neuen Kirche mit einem ausführlichen Festbericht:
"Glockengeläute und Böllerschüsse verkündeten in der Morgenfrühe den Bewohnern Biedenkopfs das Hereinbrechen des für die evangelischen Kirchengemeinde bedeutsamen Tages der Einweihung der neuerbauten Stadtkirche. Die Stadt trägt ein festliches Gewand. Guirlanden schmücken die Straßen, die Häuser tragen reichlichen Flaggenschmuck. Eine feierlich gekleidete Menschenmenge bewegte sich schon am frühen Morgen in den Straßen. Der Generalsuperintendent Dr. Ernst aus Wiesbaden, Geistliche der benachbarten Gemeinden und zahlreiche Gäste waren bereits gestern eingetroffen, um mit uns den Ehrentag der evangelischen Kirchengemeinde zu begehen. Heute morgen, kurz vor 10 Uhr nahmen die Gemeindemitglieder und Gäste an der alten Pfarrkirche (die Hospitalkirche d. Verf.) Aufstellung, um sich zu einem gemeinsamen Zuge zu vereinigen. Voran schritten drei mit Kränzen geschmückte Kinder, die auf einem Sammetkissen den Schlüssel der neuen Kirche trugen. Hierauf folgte die Geistlichkeit, die Spitzen der Behörden, der Gemeinderath und die Vertetung der evang. Gemeinde, woran sich die übrigen Festtheilnehmer anschlossen, die Stadtschule und sämmtliche Klassen des Realprogymnasiums in Begleitung ihrer Lehrer. Der wohl aus tausend und mehr Theilnehmern bestehende Festzug bewegte sich kurz nach 10 Uhr von der Hospitalstraße über den Marktplatz und Stadtgasse zur neuen Kirche. An der Pforte derselben überreichte der Kgl. Kreisbauinspector Hesse mit einer kurzen Ansprache den Schlüssel der Kirche dem Hrn. Generalsuperintendenden, der ihn alsdann unserem Hrn. Pfarrer Matthäus übergab. Mit den Worten: 'Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heil. Geistes' öffnete unser Pfarrer die Thür des Gotteshauses. Der Zudrang zur Kirche war ein derartig großer, daß vielen der Theilnehmer leider kein Einlaß gewährt werden konnte. Eröffnet wurde die Feier durch den Gesang der Kirchengemeinde 'Lobet den Herrn, den mächtigen König der Ehren.' Die Weiherede hielt Herr Superintendend Dr. Ernst, derselben die Worte zugrunde legend: 'Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnet.' Eine tiefdurchdachte, fesselnde und zu Herzen dringende Rede war die heutige Festpredigt unseres Herrn Pfarrer Matthäus, auf die heute einzugehen, uns leider die vorgerückte Zeit verbietet. Das Schlußgebet sprach der Vorsitzende der Kreissynode, Herr Dekan Cellarius aus Bat-tenfeld, früher Pfarrer unserer hiesigen Gemeinde. Die kirchliche Feier wurde geschlossen mit dem Singen des Liedes: 'Gott Vater aller Dinge'.

Nach Schluß der kirchlichen Feier begann das Festessen im Magnus' schen Saale. Zu Beginn der Tafel brachte Herr Gene-ralsuperintendend Dr. Ernst den Kaisertoast aus. (...) Herr Pfarrer Matthäus rühmt besonders das Entgegenkommen der Regierung beim Bau der Kirche und gedenkt der Liebesgabe des verstorbenen hochseligen Kaisers Wilhelm I., im Betrage von 47.000 Mark; durch Zuwendung dieser Summe sei er endlich in der Lage gewesen, den Neubau des Gotteshauses thatkräftig zu fördern. Er schloß mit einem Hoch auf Herrn Generalsuperintenden Dr. Ernst als obersten Vertreter der Kirchenbehörde. Herr Generalsuperintendend dankte und toastierte auf die Gemeinde Biedenkopf, die zum Gelingen des neuen Werkes nach Kräften beigetragen habe. Der nächste Toast, ausgebracht von Herrn Geheimrath Landrath Seyberth, galt unserem Herrn Pfarrer Matthäus. Derselbe habe es verstanden, durch unverdrossene Tätigkeit den Bau des neuen Gotteshauses zu sichern und immer wieder neue Geldquellen zu entdecken, bis es dann gelungen sei, den Bau zu vollenden. Herr Pf r. Bode-Dautphe feierte Herrn Pf r. Matthäus in gebundener Rede, in der er das Sammlertalent desselben zum Besten des Kirchbaufonds in höchst launiger Weise veranschaulichte. (...) Herr Bürgermeister Unverzagt toastierte auf die Arbeiter und Handwerker, die am Bau der nunmehr vollendeten Kirche betheiligt gewesen. Herr Dekan Cellarius-Battenfeld sprach die Hoffnung aus, daß nunmehr, nachdem die Verkündung des Wortes Gottes eine gebührende Stätte gefunden, der Kirchenbesuch ein regerer wie bisher werden möge, und feierte die Frauen als berufene Vertreterinnen der Kirche in der Familie. Am Schluß gedachte Herr Pfarrer Bode der Erbauung einer evangelischen Kirche in Rom und empfahl eine zu diesem Zwecke veranstaltete Collecte der Mildthätigkeit der Answesenden. Die Collecte ergab den Betrag von 30 Mk. Kurz nach 6 Uhr war das offizielle Festessen beendet." Es hatte übrigens, wie aus der Einladung hervorgeht, gegen 1.00 Uhr mittags begonnen und das "Couvert ohne Wein" kostete immerhin den damals stolzen Betrag von 2,-- Mark.

So endeten mit einem feierlichen Bankett die langandauernden Bemühungen um ein neues Gotteshaus für die evangelischen Christen Biedenkopfs.
Die Reden vergingen und an die Namen der Beteiligten kann sich heute kein Zeitzeuge mehr erinnern. Gleichwohl dominiert das damals entstandene Bauwerk noch immer die Silhouette der Biedenkopfer Altstadt am Fuße des Schloßber-ges. Und für viele Besucher der Stadtkirche mag seither das Motto ihrer Einweihungsrede gegolten haben: "Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt." (Psalm 26,8)


Quellen:

Archiv des "Hinterländer Anzeiger", Biedenkopf
Bde. 1883 bis 1891

Staatsarchiv Marburg,
Bestand 330,

Stadtarchive:
Stadt Biedenkopf, A 1170 (Stadtkirche)

Failing, Dr. G.: Der Neubau der Biedenkopfer
Stadtkirche, in: Hinterländer Geschichtsblätter 40. Jahrgang, Nr. 35

Schneider, Dieter: Die Restauration der Stadtkirche
zu Biedenkopf, in: Hessische Heimat 31. Jahrgang 1981, Heft 2/3

Chronik der Stadt Biedenkopf,
verfaßt von Bürgermeister Grünewald

Fotos:
Bildarchiv Foto Marburg
Staatsarchiv Marburg
Eigene 


Herzlichen Dank an Christof Schuster für diesen hervorragenden Artikel. 
Veröffentlicht wurde dieser im Buch der ev. Gemeinde. 
"Stadtkirche zu Biedenkopf 1891 -1991"
"Berichte aus Vergangenheit und Gegenwart"


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